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Projektbeschreibung von:

„Generation Einskommafünf“, eine Performance und Videoinstallation von Olcay Acet



Historischer Zusammenhang


Im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Anwerbeabkommen¹ , beginnend Mitte der fünfziger Jahre, welche die Bundesrepublik Deutschland inner- und außereuropäisch vereinbarte, kam es angesichts fortwährenden Arbeitskräftemangels, nach einer langen Vorbereitungs- und Verhandlungszeit, auch mit der Türkei am 30. Oktober 1961 zu einer Anwerbevereinbarung. Jedoch unterschied sich das deutsch-türkische Anwerbeabkommen in wesentlichen Punkten von denen mit Italien, Spanien, Griechenland, Portugal und Jugoslawien² folgendermaßen: Die Aufenthaltsdauer türkischer Arbeitsmigranten_innen begrenzte sich auf maximal zwei Jahre. Die der anderen war nicht begrenzt. Der Nachzug von türkischen Familienangehörigen war nicht vorgesehen, während bei den Anderen wohlwollende Absichten in den Anwerbeabkommen formuliert waren.

Zudem sah die Vereinbarung von einer Betreuungskommission, bestehend aus türkischen Vertretern der Regierung, für ihre Landsleute ab. Auch in der Erweiterung des Abkommens im Jahre 1964 war ein Familiennachzug nicht vorgesehen. Viele Wissenschaftler sind sich einig, dass damit der Grundstein für die Diskriminierung türkischer Menschen in Deutschland gelegt war.

Sinn und Ziele

„Generation Einskommafünf“, eine Performance und Videoinstallation von Olcay Acet heißt meine jetzige und neue Ausstellung und war bis Dato eine Videoinstallation, die sich nun um meine Performance erweitert. Dieses Konzept der Ausstellung ist der zweite Teil einer Trilogie, das unter dem Titel „Generation Einskommafünf“ zusammengefasst ist. Im ersten Teil gab es nur die Videoinstallation. Darin wurde die Gruppe "Generation Einskommafünf" vorgestellt. Der zweite Teil erstreckt sich um meine Performance. Dadurch entsteht eine andere Dimension der Videoinstallation und der Interaktion in Beziehung. Damit möchte ich andeuten, dass alle in der Gesellschaft involviert sind und wir alle Verantwortung für die Gestaltung und Qualität unserer Beziehungen tragen. Für meine Ausstellung habe ich Gespräche mit türkischen Menschen dieser Generation geführt. Diese Zwischengeneration von türkischen Einwanderer_innen besteht aus den in der Türkei zurückgelassenen Kindern der Arbeitsmigranten_innen. Die Anzahl beträgt rund 700.000. Sie wurden zunächst bei Großeltern, Tanten, Onkeln und Anderen gelassen und dann später nachgeholt.

Inhaltlich geht es um ihre Migrationsgeschichte, mit besonderem Blick auf die Trennungserfahrungen, die sie als Zurückgelassene machen mussten. Die Interviews laufen auf unterschiedlichen Bildschirmen aus den verschiedenen technischen Epochen seit 1961.

Die Erfahrung der Generation Einskommafünf, die psychologische Dimension, die Narben, die das Weggehen, Zurückgelassen-Worden-Sein und das Nicht-Ankommen-Können hinterlassen haben, nehmen bis jetzt keinen Raum ein, wenn über Integration „verhandelt“ wird.

Mein Ziel ist es, für die Trennungs- und Migrationserfahrungen der Betroffenen einen Raum zu bieten, um damit die ganz persönlichen Migrationsprozesse zu veranschaulichen. Gleichzeitig hoffe ich damit, die deutsch-türkische Einwanderungsgeschichte besser verständlich zu machen. Diesen Zugang sehe ich als eine wesentliche und politische Voraussetzung für ein gelingendes Miteinander der Kulturen.

Die Betrachtung von transgenerationalen Gefühlserbschaften ist, wie am Beispiel der deutschen Kriegsvergangenheit und deren Betroffenen zu sehen, für die Verarbeitung biographischer Erlebnisse eine längst anerkannte Vorgehensweise.

Ich will mit meiner Arbeit auf die unbewusste Weitergabe von frühen konflikthaften Erlebensanteilen der Generation Einskommafünf an die nächsten Generationen aufmerksam machen und Achtsamkeit erzeugen. Denn durch die Bewusstwerdung von verleugneten, verdrängten und abgewehrten Erlebnissen, aus einer tiefen, inneren Perspektive heraus, kann eine kollektive Auseinandersetzung stattfinden. Das Biographische und Persönliche meines Projektes über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Migration hebt es von dem üblichen Umgang mit dem Thema Migration ab und schafft einen Zugang zu dem Individuum. Mit meiner Performance möchte ich jede_n Einzelne_n dazu anregen, das eigene Kontaktaufnahmeverhalten zu reflektieren und dessen Konsequenzen im Hier und Jetzt sichtbar zu machen. Die Gestaltung der gegenwärtigen Beziehung in diesem Setting dient als der Spiegel der gesellschaftlichen Realität.

Ablauf

Im Rahmen der Interviews wurde ich oft von meinen Gesprächspartnern_innen gefragt, ob ich mich einer ähnlichen Gesprächssituation ausgesetzt habe. Das habe ich nicht.
Für mich ist nun der Zeitpunkt gekommen, mich in die gleiche Situation zu begeben und aktiv meine Zugehörigkeit zu der Gruppe zu bekunden. Und damit entstand die Idee der Performance. Als selbst Angehörige der Generation Einskommafünf stelle ich mich für 1,5 Stunden im direkten Kontakt mit den Besucher_innen der Ausstellung für Fragen zu meiner eigenen Migrationsgeschichte im Hier und Jetzt zur Verfügung und reihe mich damit in den Kreis der „Generation Einskommafünf“ ein.

Das sieht so aus, dass eine Kamera aufgebaut ist und neben der Kamera ein leerer Stuhl steht. Dieser Platz ist für Diejenigen, die eine Frage stellen möchten. Ich sitze vor der Kamera, bereit, die Fragen zu beantworten und werde gleichzeitig aufgezeichnet. Die Kamera ist an den Fernseher angeschlossen und überträgt die Aufnahme.
Alle Fernseher stehen im Kreis und zeigen die Interviews. Der Kreis steht für die Gruppe „Generation Einskommafünf“, die im Chor von ihren Erfahrungen erzählt.
Meine Intention ist, in diesem Setting, den Kontext zur gesellschaftlichen Gesamtsituation herzustellen und abzubilden.


¹ Folgende Länder schlossen mit BRD eine Anwerbevereinbarung ab: Italien, Spanien (1955); Griechenland (1960); Marokko (1963); Portugal (1964); Tunesien (1965); Jugoslawien (1968). Vgl. Hunn, Nächstes Jahr kehren wir zurück..., S. 29.

² Die Vereinbarungen mit den beiden nordafrikanischen Ländern Marokko und Tunesien hatten stets eine gesonderte Rolle.